»Ein packendes Wissenschaftsdrama.« Oliver Prohlmann, Der Standard
Mehr Informationen LeseprobeDen besten Rat oder jedenfalls den schönsten für den Umgang mit Traurigkeiten wusste zweifellos Billie Holiday und sang ihn in »Good Morning, Heartache«. In anderer Stimmlage sollte man sich mit Traurigkeiten nicht beschäftigen, aber was tun, wenn man nicht singen kann? Nachdenken hilft auch. Und wo persönliche Erfahrungen nicht bare Münze, sondern Anlass zur Erkenntnis sind, wird es plötzlich doch erstaunlich hell und manchmal heiter. Katharina Hackers subjektiver Blick auf die häufigen Gäste namens Traurigkeiten, ob sie Herzschmerz heißen oder anders, hilft zu sagen: Sit down! Wo sie bleiben dürfen, wüten sie nicht leicht. Ein Stundenbuch in schwierigen Zeiten, gegossen in die Dauer nachdenklicher Minuten – das ist doch was!
Kaum etwas produziert so viel Literatur wie das Reisen. Auch Anne Serre ist unterwegs, nach Montauban zum Festival, per TGV erster Klasse. Und schon geht’s los: Die Stille wird gestört von Zugpersonal und plaudernden Sternendeutern. Unverhofft tauchen Familiendramen aus der Erinnerung, wenn der Zug irgendwo hält, wo sich das Leben gegabelt hat. Und dann ist da, nebst toten, lebendigen und eingebildeten Kollegen, die sie umtanzen, ein spanischer Kollege namens Enrique Vila-Matas, den sie gar nicht kennt, nur seine Bücher, die sie liebt. Sitzt er ihr gegenüber? Den Hut im Gesicht? Hat er in Montauban ein Zimmer nebenan bezogen und kommuniziert mit Klopfzeichen? Ist er gar mit einem Mal Herr des Geschehens? Wohin geht diese Reise überhaupt? Allen Ernstes nach Barcelona? Patagonien? Ein federleichter Roman, in dem der Schmerz der Erinnerung mit der Wirklichkeit ein fröhlich surreales Spiel treibt.
Elegant und horizonterweiternd wie gewohnt sind diese neuen, im Englischen größtenteils unveröffentlichten Texte über die Berge und den Wind, über schlafende (und träumende) Menschen in Japan und Schweden, über das Murmeln der Bienen und Nachrichten aus fernen Zeiten. Und über Tu Fu, den vielleicht größten Dichter Chinas. Wer könnte das besser beurteilen als Eliot Weinberger, der Übersetzer und der Dichter. In einem poetischen Essay, fast ein biografisches Poem, schildert er das Leben dieses Meisters der Tang-Zeit und liest seine Texte. Weinberger selbst nennt das »eine fiktive Autobiografie, abgeleitet aus Gedanken, Bildern und Anspielungen in Tu Fus Gedichten«. In ihrem Nachwort deutet Beatrice Faßbender das Gesamtwerk dieses singulären Autors.
Man sollte sich hüten, sich allzu ernst zu nehmen, wenn man Bücher nicht schreibt, sondern sie nur drucken lässt. Aber nach zwanzig Jahren sind ein paar Berichte aus dieser Tätigkeit vielleicht doch nicht ganz uninteressant. Also versuchen wir es mal: Dieser schmale Band aus biegsamem Material versammelt Porträts, Gespräche, Reiseberichte und eine Auswahl jener Newsletter, die über die Jahre unregelmäßig über das Wie und Wer in diesem Verlag informiert haben: vom Elend der Vorschautexte über »schwierige Autoren«, aus Israel, Palästina und anderswo. Nicht zu vergessen: der Kosmos Spanien und Lateinamerika und warum er für uns so wichtig ist. Mit Texten über Roberto Bolaño, Rafael Chirbes, Michael Rutschky, Vicente Valero sowie einem Gedicht von Christine Wunnicke: »Ein Logo spricht«.
Eine Liebesgeschichte, so schön, so verwegen, wie nur Christine Wunnicke sie schreibt. Schauplatz ist Frankreich im 18. Jahrhundert, das vorrevolutionäre und das überaus revolutionäre. Und es lieben sich zwei Frauen, die verschiedener nicht sein könnten: Marie Biheron, die schon im zarten Alter Leichen seziert, um deren Innenleben aus Wachs zu modellieren; und Madeleine Basseporte, die zeichnend die Anatomie von Blumen aufs Papier zaubert, weil Menschen eher stören und meist keine Ahnung haben. Männer kommen auch vor, in schönen Nebenrollen – ein nervöser Bestseller-Autor, ein junger Nichtsnutz und Diderot, der Kaffee trinkt und viel redet. Ein hinreißender Liebesroman, der hin und her schwingt zwischen der Zeit, als Küchenschellen friedlich am Wegesrand wuchsen, und jenen Schreckenstagen, als nicht allein der Königin wie einer schönen Blume der Kopf abgeschlagen wurde.
Wenn man sie rein ließ, selten genug, durften auch Teutonen – Landsknechte, Abenteurer, Jesuiten – früh jenes geheimnisvolle Reich in Übersee betreten, das seit 1492 den Spaniern »gehörte«. Erst nachdem die Staaten des Kontinents unabhängig geworden waren, kamen auch richtig viele Deutsche. Michi Strausfeld, die Lateinamerikas Kultur wie kaum eine andere in Deutschland bekannt gemacht hat, berichtet, wie sie kamen, warum und wer das war: Gauner, Exzentriker, Künstler, Kaufleute, die Reichtümer witterten, eine Utopistin mit Kaiserkrone, Forscher, die sich um das kümmerten, was ihnen Alexander von Humboldt übrig gelassen hatte. In Massen kamen sie erst spät: Auswanderer, die daheim verhungert, Juden, die umgebracht worden wären, auch ihre Nazi-Quälgeister, die hier nach 1945 ein Versteck fanden. Und heute? Ein lateinamerikanisches Tableau, von 1492 bis zur Gegenwart, in kräftig deutschen Farben.
Bevor Franz Kafka sich vor hundert Jahren seiner erkrankten Lunge ergab und starb, hatte sie sein Leben auf geradezu befreiende Weise verändert: Sie hatte dafür gesorgt, dass Kafka seinen ungeliebten Beruf in der Prager Arbeiter- und Unfallversicherung aufgeben konnte; dass er eine am Ende zur Last gewordene Verlobung lösen konnte; dass er sich endgültig vom Vater befreien, den berühmten room of one’s own und, am Ende, Dora Diamant finden konnte. Matthias Bormuth war Arzt in einer psychiatrischen Klinik, bevor er seine zweite Karriere als Philosoph begann. Er ist wie wenige in der Lage, jene Brücken zu erkennen, die, wie schon bei Max Weber, Karl Jaspers oder Aby Warburg in der Krankheit die Freiheit eröffnen – auch für den Prager Jahrhundertschriftsteller.
Ein Kind wächst heran, auf einem Hof im Süden Deutschlands. Vater? Mutter? Sind nicht da. Es muss sehen, wie es zurechtkommt, mit Menschen, die vorschreiben, was es tun soll, ohne Liebe. Wo die Mutter ist und wo der Vater, die Frage zieht sich als Geheimnis durch diese auf bittere Weise schöne Geschichte einer Kindheit im schweigenden Deutschland. Lang ist der Krieg noch nicht vorbei, die Vögel singen, die Obstbäume blühen, die Wiesen hinterm Hügel sind der sichere Ort für dieses Kind, das zu verstehen sucht, warum die Menschen – der Pfarrer, der Lehrer, Onkel, Tante, die Kinder drumherum – so oder anders zu ihm sind. Arbeiten muss das Kind, auch, wenn die Schule ruft. Allein der Großvater schaut von Zeit zu Zeit nach dem Rechten und nimmt es an der Hand. Fast archaisch wirken die Stationen aus einem Leben im Abseits, die in diesem mit großer Einfühlsamkeit geschriebenen Romandebüt vorüberziehen.
Wiedersehen mit einer Autorin, die uns Glück gebracht hat – vor genau zwanzig Jahren mit einem phänomenalen Nachruf zu Lebzeiten auf »Die Zigarette«: unser erster Bestseller! Zum Verlagsjubiläum erscheint, zweisprachig, ein Gedichtband dieser preisgekrönten Exilantin aus Montevideo, einer der bedeutendsten Lyrikerinnen Lateinamerika. »Playstation« ist ein fantastisches Kaleidoskop: mitten aus der Stadt (Barcelona), vielstimmig, vielgestaltig: autobiografische Monologe voll schwarzem Humor, Begegnungen mit der Liebe, den Frauen, sich selbst, und immer wieder mit der heiligen, nervtötenden Literatur. Im Hintergrund stets zur Hand: die »Playstation« – mechanischer Trost für inzestuöse Träume, Passionen und Enttäuschungen, die Niederungen des Literaturbetriebs, Helden und Schurken von einst, das Spiegelbild am Abend eines wilden Lebens.
Im Frühjahr 1945 verhafteten die Amerikaner die deutsche Physiker-Elite um Heisenberg, Hahn und Weizsäcker und internierten sie auf einem englischen Landsitz. Dort erfuhren die Wissenschaftler vom Abwurf der Hiroshima-Bombe. Neben der globalen Katastrophe war dies auch eine persönliche Niederlage, denn bis dahin waren die Forscher überzeugt, dass nur sie das Geheimnis der Kernspaltung kannten. Spannend wie einen Thriller erzählt Richard von Schirach, wie es kam, dass Nazideutschland am Ende in einem süddeutschen Weinkeller fast noch in den Besitz einer Uranbombe gekommen wäre. Er erzählt von Superstars, die nach Weltformeln suchten und sich in beiden Weltkriegen in deutsche Kriegsverbrechen verstricken ließen. Ein Drama von Genialität, Hybris, Naivität und Schuld, wie es sich nur in Deutschland zutragen konnte. Richard von Schirach ist als Autor dafür berufen wie wenige.
Dass die Italiener verrückt sind, wissen wir. Auch dass sie, nicht ohne Grund, stolz darauf sind: »Siamo pazzi!« – nirgends in Italien schallt das mit so viel Berechtigung wie aus Neapel, vielleicht der schönsten Stadt Europas, von der schon Benedetto Croce sagte, es sei ein von Teufeln bewohntes Paradies. Maike Albath, die Italien, das geistige und das alltägliche, kennt wie ganz wenige nördlich der Alpen, hat mit ihrem neuesten Buch – nach Turin, Rom und Sizilien – das Labyrinth der uralten Stadt am Golf erkundet. Der Fußball und Maradona, Elena Ferrante, die Industrieruinen von Bagnoli, Capri, die Camorra und ihre Feinde, der Vesuv und, wie immer bei dieser Autorin, berühmte und normale Zeitgenossen, denen sie zuhört – auf all das darf man sich zum nun schon vierten Mal freuen.
Kein Roman erfasst die Erschütterungen des 20. Jahrhunderts so wie Thomas Manns »Zauberberg«, der vor 100 Jahren erschien und von der Höhe aus bis heute ein Panorama der europäischen Welt entfaltet, ihrer Menschen und der beschleunigten Zeit mit all den Neuerungen und Erfindungen, dem um sich greifenden Nationalismus, dem Antisemitismus, dem Gegensatz von Ost und West, dem »Donnerschlag« des Ersten Weltkriegs, der frühen 1920er Jahre. Die Themen des Romans sind unsere: der Schnee, der heute nicht mehr so fällt wie damals; das Zwielicht der Geschlechter; die konfuse Sexualität des Menschen; Thomas Manns jüdische Figuren: sieben Kapitel, jedes ein eigener Zauberberg, über ein Jahrhundertwerk.
Ein Immobilienhai ist Bertolt Brecht nie gewesen. Er hatte Besseres zu tun, um einer der erfolgreichsten Dichter aller Zeiten zu werden. Damit aber daraus was werden konnte, musste es bequem zugehen. Nicht nur Zigarren mussten zur Hand sein und die Frauen, die alles organisierten: ob im Berlin der zwanziger Jahre, ob im dänischen, schwedischen, finnischen und am Ende kalifornischen Exil, ob als Staatsdichter im Arbeiter- und Bauernstaat DDR – eine geräumige Wohnung, besser noch: Ein Haus, und nicht irgendeins, ein bequemes musste sein. Stuhl und Tisch waren wichtig, und auch der fahrbare Untersatz musste stimmen. Seine ersten Autos bezahlte er mit Gedichten, später mit Schweizer Franken. Ursula Muscheler beschreibt mit Verve, Witz und Präzision, wie bei Brechts Lebensstil eher die alte als die in seinem Werk beschworene neue Zeit zum Zug kam – und die Frauen dafür sorgten, dass alles seine Ordnung hatte.
Ramón hat die Schnauze voll und einen neuen Job. Er soll das riesige Coca-Cola-Plakat am Ortseingang bewachen. Und weil die Welt von oben besser aussieht, zieht er gleich ganz auf das Gerüst – ein moderner Säulenheiliger. So sehen ihn auch die Leute, die ihn kurzerhand für verrückt erklären und seinem elfjährigen Neffen, der diese schöne Geschichte erzählt, verbieten, seinen Onkel zu besuchen. Genau das macht er natürlich: Da oben sind die Sterne näher, Coca-Cola leuchtet, und mit Ramón ist gut schweigen. Aber es gibt Krach. Nicht nur mit Tante Paulina und der Mutter – wer aus der Reihe tanzt, um was Besseres zu finden, den trifft die Wut der Nachbarn, egal wie mies es denen geht. Was tun? Wie schon in ihrem gefeierten Erstling »Kramp« lässt María José Ferrada auch hier ein Kind der gewöhnungsbedürftigen Erwachsenenwelt einen klugen, nicht gerade schmeichelhaften Spiegel vorhalten.
Mit seinem Buch über die Folgen des Ersten Weltkriegs für Europa wurde John Maynard Keynes über Nacht ein berühmter Mann. Niemand hat prophetischer analysiert, warum der Vertrag von Versailles einen neuen Krieg und bis heute schwelende politische Konflikte auslösen konnte. Keynes’ glänzend geschriebene Polemik, von Joachim Kalka neu übersetzt, enthält die Darstellung der nie wieder erlangten Höhe von Europas Reichtum vor 1914 und den Ausblick auf die wenig hoffnungsvolle Nachkriegszeit. Kein anderer hat so anschaulich und mit analytischem Spott beschrieben, wie 1919 der Frieden verspielt und Europa unabsehbarer Schaden zugefügt wurde.
»Amsterdam: was für eine schöne, unverwechselbare Stadt! Sie wurde zur Zuflucht, sie lässt uns arbeiten«, schwärmte Klaus Mann von einer seiner ersten Stationen im Exil. Und Amsterdam war nicht nur temporärer Wohnort, sondern verhieß schon bald auch eine ganz andere Art von Heimat: Zwischen 1933 und 1950 veröffentlichte der Querido Verlag viele der Autoren, die vor den Nazis aus Deutschland fliehen mussten, von Joseph Roth bis Irmgard Keun und Lion Feuchtwanger. Über Europa verstreut, finden die deutschen Schriftsteller in Amsterdam ihr geistiges Zentrum. Und trotzdem: »Das Exil war eine Hölle«, schreibt Hermann Kesten. Bettina Baltschev geht mit offenem Blick durch das heutige Amsterdam und spürt dem Leben der Exilschriftsteller und ihrer Verleger nach.
Ein Coming-of-Age-Roman aus der morschen Welt der feinen Leute, geschrieben wie von einer jugendlichen Virginia Woolf. Eine junge Frau reist mit ihrem alten Vater zu einer Preisverleihung, bei der das spanische Königpaar dabei sein wird. Preis träger ist Mr Kopp aus England, reich, exzentrisch, frivoler Studienfreund des Vaters und, wie dieser, ein berühmter Wissenschaftler am Ende seiner Karriere, wo alten Männern dicke Preise winken. Mit dabei: seine strenge Frau, Sonya, die junge Frauen für eine beklagenswerte Laune der Natur hält. Und Bertrand. Sohn? Künstler? Total Verrückter, der Grand Hotels und öffentliche Feierstunden zum Schauplatz haarsträubender Auftritte macht? Abstoßend und faszinierend für Virginia, deren Leben nach dieser Begegnung mit den Spiegelbildern ihrer selbst und ihres alten Vaters, am Ende ihrer Jugend, für immer verändert sein wird.
Er ist Spanier, immer bereit, zuzuschlagen oder um sich zu schießen. Im Café, wenn ihm Leute dumm kommen. Oder wenn sich sein Publikum blöd anstellt. Er ist nämlich auch Filmregisseur. Und Surrealist. Mit denen ist sowieso nicht zu spaßen. Schon zweimal haben seine Filme provoziert, bis es gefährlich wurde. Jetzt will er nach Spanien und einen Film über Menschen drehen, die nichts haben, nicht mal Brot. Ein anarchistischer Freund ist dabei, ein paar junge Leute, die mit Kameras umgehen können. Was passierte, damals in »Las Hurdes«, ist Filmgeschichte. Das surreale Drama vom Dreh mit Hungerleidern, Priestern, Eseln, fliegenden Ziegen, Revolvern, Gerippen und Bischofsmützen ist in Sebastian Guhrs boshaft fröhlichem Roman mitzuerleben. Bei der Premiere 1932 saß Luis Buñuel hinter der Leinwand, um das Publikum mit Steinen zu bewerfen. Doch der Film wurde ein Erfolg – und sofort verboten. Viel Vergnügen!
Der Wiederaufbau historischer Symbolbauten gilt als Engagement für historisches Bewusstsein, architektonische Schönheit und Reparatur von Stadtraum. Doch die vermeintlich unpolitischen Fassaden zielen auf eine Änderung unseres Geschichts- und Gesellschaftsverständnisses: Populistisch werden Zeiten vor 1918 idealisiert, Brüche negiert, gewachsene Identitäten überschrieben. Und immer wieder sind Rechtsradikale an diesen Projekten beteiligt, als Initiatoren oder Großspender. Philipp Oswalt zeigt die ideologischen Hintergründe der Debatte an Fallbeispielen auf. Ob Garnisonkirche Potsdam, neue Altstadt oder Paulskirche in Frankfurt, Berliner Schlosskuppel oder die Dessauer Meisterhäuser – Oswalt diskutiert jenseits einseitiger Sichtweisen, mit Gespür für das Einsickern reaktionärer Vergangenheitsinterpretationen und identitätspolitisch unterlegter Ideologien in die zeitgenössische Stadtplanung.
Wie viele Engel gibt es? Mehr als Sterne am Himmel, als Sand am Meer, so heißt es. Andere haben nachgerechnet: genau 301.655.722 – oder doch 399.920.004? Wie viele es auch sein mögen: Wir sind von Engeln durchdrungen und umzingelt. Was aber wissen wir über diese himmlischen Wesen? Woher kommen sie, woraus sind sie gemacht, wie kommunizieren sie miteinander, können sie hören, riechen, schmecken, fühlen? Die Antworten kennt Eliot Weinberger. In diesen überaus eleganten Essays kondensiert er theologische Schriften aus vielen Jahrhunderten zu einer poetischen Vermessung der himmlischen Heerscharen, um uns anschließend vom Leben ihrer irdischen Gegenstücke zu berichten: den Heiligen.
»Eines der genialsten Bücher, die ich in den letzten Jahren in der Hand gehalten habe.« Hans Ulrich Obrist, Basler Zeitung
Natur und Mensch: Damit ist es nicht gut ausgegangen, und Caspar David Friedrich hat das Malheur schon gemalt. Ausgerechnet Friedrich? Der Maler mit all den herrlichen (manchmal finsteren) Ansichten von Berg und Tal, Mond und Meeressaum, auf denen Menschen meist mit dem Rücken zu uns das kaum Fassbare betrachten? Eberhard Rathgeb zeigt, wie dieser verschlossene und universal denkende Künstler heute, da die Natur auch Angst zu machen beginnt, seine Aura mächtiger denn je entfaltet. Was waren die Lebensumstände dieses schon zu seiner Zeit berühmten und umstrittenen Malers, der zu einem der großen Aushängeschilder der deutschen Romantik wurde, aus der er zugleich herausfällt – weshalb er besonders intensiv leuchtet? Dieses Buch erzählt das Leben des Künstlers und erklärt die Dimensionen und Konsequenzen seines berühmten inneren Blicks, mit dem er uns noch heute berührt und verunsichert.
Sie sind zu dritt, und in dieser abgeschiedenen Villa hinter hohen Bäumen sind sie die Königinnen: die Gouvernanten. Auf die Erziehung der ihnen anvertrauten Jungen geben sie wenig, lieber lassen sie sich melancholisch durch die hellen Tage treiben. Manchmal zieht es sie zum goldenen Tor, das ihr Reich begrenzt, wo sich, wild vor Verlangen, die Männer drängeln. Erhört werden sie alle nicht, denn hier stellen die Gouvernanten die Regeln auf. Verliert sich aber ein Fremder in den Garten, gehen sie wie im Rausch auf die Jagd, richten den Ahnungslosen unerbittlich zu, mit Küssen und mit Bissen. Und all das vor den Augen des Nachbarn, der die angebeteten Frauen mit seinem Fernrohr auf Schritt und Tritt verfolgt … Mit Eleganz und dunkler Sinnlichkeit, und durchaus mit subtiler Komik, erzählt Anne Serre in diesem fantastischen Märchen von der Macht der Blicke und von weiblichem Begehren.
Out of Dorsten durch die Fußgängerzone, an die Niagarafälle, nach Disney World, Toronto – und immer unterwegs zu sich selbst. Eine unter witziger Oberfläche sehr ernsthafte Art der Heimatsuche, auf die sich Marc Degens begibt. Sie führt durch das Ruhrgebiet nach Eriwan, zu einem Konzert mit Art Garfunkel, einem Literaturfestival in Novi Sad, nach Florida und am Ende, per Telefon, nach Pirmasens – alles Schauplätze einer Reise in und durch das Innere einer überaus zeitgenössischen Literaten-Existenz. Abenteuerlich, offenherzig, schwerblütig, frech und manchmal schreiend komisch ist dieses Best-of-Marc-Degens – die Einladung, einen großartigen Autor für sich zu entdecken!
Dreimal ist Helmut Böttiger während der letzten dreißig Jahre nach Czernowitz gereist, in die Stadt am östlichen Rand der alten Habsburgermonarchie, heute eine Stadt im Westen der Ukraine – und längst ein mythischer Ort. Immer lagen gut zehn Jahre zwischen diesen Reisen, und jedes Mal hatte sich die Stadt verändert: von einem aus sowjetischem Tiefschlaf erwachten Vielvölker-Labor brutaler Umsiedlungspolitik zum Schauplatz der Orangenen Revolution. Und schließlich zu einer Stadt in der neuen, sich ihrer Eigenständigkeit und eigenen Sprache bewussten Ukraine, die sich gegen den mörderischen Zugriff der alten Besatzer verteidigen muss. Nicht nur ihre jüdischen Wurzeln hat die Stadt neu entdeckt. Helmut Böttiger ist auch den Spuren der Literatur gefolgt. Von Paul Celan bis zu den Autorinnen und Autoren der modernen Ukraine, die sehnsüchtig nach Westen blickt und vom Osten nicht loskommt.
Gute Nachrichten sind selten eine Meldung wert – auch nicht, wenn sie aus Israel kommen. Dabei gibt es sie, und sie sind nachzulesen in diesem Buch, das rechtzeitig zum 75. Jahrestag der Staatsgründung erscheint. Der israelische Journalist und Autor Igal Avidan berichtet, entgegen der üblichen Fernsehbilder, aus einer bewegten Gesellschaft, in der Juden und Araber längst ein Zusammenleben gefunden haben, das den Vorstellungen von ewigem Hass (von Politikern auf beiden Seiten gern geschürt) nicht entspricht. Eine friedliche und zugleich brüchige Co-Existenz auf dem Vulkan – davon erfährt man in diesen Reportagen aus dem Alltagsleben in Israel. Gegenseitige Pogrome sind zwar an der Tagesordnung, gegenseitige Hilfe, Solidarität, Nachbar- und Freundschaft aber auch. Dieses Buch zeigt, dass die israelische Gesellschaft – allen Rückschlägen zum Trotz – dabei ist, zusammenzuwachsen.
Schwäne, Riesenwürmer. Auch Pferde. Hunde hat Richard Wagner nie auf die Bühne gebracht. Und doch waren sie lebenslang seine treuesten Begleiter. Oder müsste man sagen: Richard Wagner war lebenslang der treueste Begleiter seiner Hunde? Niemand kannte den Komponisten besser als Robber, Peps, Pohl und die anderen. Höchste Zeit, ihre Meinung zu hören. Kerstin Decker begegnet ihrem Gegenstand mit bewundernder Ironie. Denn Wagners Hunde – meist Neufundländer oder Jagdhunde, die es an Statur mit ihrem Meister aufnehmen konnten – fuhren mit ihm über die tosende See nach Paris, sie teilten sein Exil in der Schweiz, und fanden am Ende ihre Ruhestatt neben ihrem Meister in Bayreuth. Richard Wagners Leben aus vierbeiniger Perspektive – das gab es noch nie.
Gier, Angst und Schrecken? Ist der Finanzkapitalismus vor allem da, um Nicht-Bescheidwisser das Fürchten zu lehren? Georg von Wallwitz unternimmt den gewohnt augenzwinkernden Versuch, zu erklären, was wir für unerträglich kompliziert halten: Wie »unser« Kapitalismus entstand; wer ihn sich ausgedacht hat; wofür er gut ist und wofür er nichts taugt; wie man ein Land ruiniert oder es vermeiden kann; wie man der Armut entgeht; warum man Steuern zahlen soll; Gerechtigkeit und Verteilung; Krisen und Wachstum; Gier und Banken; Real- und Finanzwirtschaft; und: Spielt Geld überhaupt eine Rolle? Voilà – die gesamte Ökonomie auf kleinstem Raum und, wie stets bei diesem Autor, mit, möglichst, guter Laune.
Man kann ihr nicht ausweichen. Man kann sie nicht festhalten. Und kaum einer will ohne sie sein. Was ist das mit der Musik? Warum ergreift sie uns so unmittelbar, so intensiv? In fünfzehn Begegnungen mit der Musik und mit Menschen, die sich ihr ganz verschrieben haben, spürt die Journalistin Carolin Pirich dem Wesen der Musik nach und versucht, ihren Zauber greifbar zu machen. Denn: Musik ist mit den Menschen verbunden, so einfach ist es. Musik erzählt vom Leben, Menschen teilen sich über sie mit, andere hören ihnen zu. Carolin Pirich fragt und hört genau zu, wenn eine Dirigentin wie Joana Mallwitz, Musiker wie Christian Tetzlaff oder Igor Levit, aber auch Nachwuchstalente, Mozarts Geige, der Platzanweiser in der Oper oder, ja, die Musik selbst ihr in Worten, Tönen und Pausen erzählen – und zeichnet wie nebenbei ein lebhaftes Bild des modernen Musikbetriebs: vom Vorspiel bis zum Medienstar.
»Sagen wir, ich habe mir Tiere angeschafft der Unterhaltung wegen. Vielleicht hätten es dafür nicht vierzehn sein müssen. Aber manche reden nicht mit mir.« Ob Hund oder Meerschwein, Katze oder Kaninchen – Katharina Hacker macht gern Platz für Tiere. Nicht nur in ihrem Leben, sondern auch in ihren Texten. In diesem zweiten Band ihrer »Minutenessays« ist sie nun ganz bei den Tieren und denkt von ihnen aus über uns Menschen und unser Leben in dieser Welt nach. Dabei beschränkt sie sich nicht auf ihre eigenen Mitbewohner, sondern schaut auch auf Grashüpfer und Spinne, Schwan und Fledermaus. Uns beschenkt sie mit ihren Gedanken, die immer pointiert sind, mal witzig, mal melancholisch, stets zärtlich, lebensklug und neugierig. Und die unbedingt zum Mit- und Weiterdenken einladen. Denn natürlich gilt: »Wie meist, wenn wir über Tiere reden, sagt das mehr über uns als über Hunde oder Katzen.«
International Booker Prize 2024 | Shortlist
Drei Männer, die zum Angeln fahren und mit den Bewohnern im benachbarten Ort beim abendlichen Tanzfest fast tödlich aneinandergeraten. Warum? Männersachen? Frauengeschichten? Dahinter verbirgt sich viel mehr, und auch deshalb ist das dunkle Wasser nicht nur ein Fluss, aus dem riesige Rochen gefischt werden und in dem Männer verschwinden. Die Argentinierin Selva Almada erzählt eine wilde Geschichte, in der vieles mitgeteilt und vielsagend verschwiegen wird. Niemand versteht es, die verhängnisvolle Männerwelt Lateinamerikas so intensiv zu beschwören, wie diese großartige Autorin.
Der Lehrer, Freund und Inspirator vieler berühmter Komponisten, Pianisten, Musiker und Intellektueller im 20. Jahrhundert war eine Frau: Nadia Boulanger hat das musikalische Geschehen ihrer Zeit bestimmt wie niemand sonst, und aus diesen ebenso klugen wie unterhaltsamen Gesprächen mit Bruno Monsaingeon erfährt man, warum. Die Liste ihrer Schüler ist lang und prominent: Leonard Bernstein und Igor Strawinsky blieben ihr zeitlebens ergeben, mit Ravel machte sie Hausaufgaben, berühmt gewordene junge Künstler wie Philip Glass und Quincy Jones hatten ihr viel zu verdanken. Der große Paul Valéry sagte über seine Freundin: »Sie atmet, was wir hören.«
»Mit ihrem einzigartigen Charakter hat sie Generationen von Musikschaffenden geprägt. Viele von Nadia Boulangers Schülerinnen und Schülern zählen heute zu den bedeutendsten Komponistinnen und Komponisten des 20. Jahrhunderts, während sie selbst als wegweisende Lehrerin vielen Menschen immer noch unbekannt ist.«
Boulanger Trio
Margherita Costa – nie gehört? Nach 400 Jahren wird es Zeit! Schließlich war die um 1600 geborene Römerin die wohl profilierteste Schriftstellerin ihrer Generation. Ihr wildes, respektloses und genresprengendes Werk blieb jahrhundertelang vergessen. Costa war Opernstar und Kurtisane, Intima dreier Papstfamilien und Räuberbraut, Feministin und Pornografin, Mutter vieler Töchter unklarer Herkunft und die wohl erste Satirikerin der Welt. Aus ihrer Dichtung strahlt die Sinnlichkeit in so grellen Farben, dass man beim Lesen gern zur Sonnenbrille greift. Christine Wunnicke hat sich in Costa verliebt und ihre Texte in mitreißendes Deutsch gebracht. Und ihr Porträt dieser wahrlich fantastischen Autorin ist ein Stück schönster Biografie-Literatur.
In seinen skeptischen Denkbewegungen, mit denen er die Tradition Aby Warburgs neu begründete, gehörte der Kunst- und Kulturhistoriker Martin Warnke zu den intellektuell prägenden Figuren der späteren Bundesrepublik. Matthias Bormuth widmet ihm einen groß angelegten biografischen Essay. Schon Warnkes Berichte über den »Auschwitz-Prozess« zeigten, dass der junge Rubens-Forscher nicht nur über das Verhüllende in der Kunst nachdachte. Als umstrittener Aufklärer pochte er auf Individuum und Autonomie der Kunst und las Karl Marx gegen den Strich, die Hofkünstler Velázquez und Goya erscheinen bei ihm als geniale Zeugen einer prekären Wirklichkeit, die sie vieldeutig enthüllen. Seine Schriften und Lebensspuren offenbaren eine Dynamik, deren persönlicher Kern ein vielschichtiges Rätsel bleibt: Auch der Wissenschaftler lebt von der Kunst des Verbergens, die zugleich herausfordert, implizite Botschaften zu erkennen.
Über Paris und die französische Küche in ihrer besten Zeit hat niemand so geschrieben wie der wunderbare A. J. Liebling, für den ein Tag ohne opulentes Mittag- und Abendessen nicht der Rede wert war. Zeit seines Lebens ein engagierter politischer Publizist und Gourmand, hatte er das Glück, sich von unten nach oben durch die französische Hauptstadt fressen zu müssen: Als junger Mann entdeckte er in den zwanziger Jahren, dass sich teures Essen und guter Geschmack nicht unbedingt vertragen. Später, als Korrespondent des New Yorker, erklomm er, ausgerüstet mit ebenso respektgebietendem wie gelassenem Sachverstand, sämtliche Gipfel, die das kulinarische Paris zu bieten hatte. Niemand hat darüber mit solch hinreißender Passion und stoischem Witz geschrieben wie Liebling in seinem letzten Buch.
Lucky Luke schießt bekanntlich schneller als sein Schatten, Peter Schlemihl verkauft den seinen, während sich der Schatten von Peter Pan selbständig macht und wieder angenäht werden muss (was ihn nicht davon abhält, weiterhin ein Eigenleben zu führen). Die Toten streifen durch das Schattenreich, Gespenster werfen keinen Schatten, doch all das vergessen wir im Sommer, wenn wir im Schatten dicht belaubter Bäume Kühlung (und eine Liebelei?) finden. Und das Gegenstück zum Schatten? Ist natürlich der Schnee! Schnödes geforenes Wasser, aber mit Zauber-kräften. Schneit es, wird die Welt eine andere, ob bei Patricia Highsmith, Tania Blixen oder Dostojewski. Und bei Winnie the Pooh lernen wir, wie es ist, sich snowy zu fühlen. In seinen neuen Expeditionen ins Literaturreich folgt Joachim Kalka seltsamen Schatten und tanzenden Schneeflocken – und wir sehen ihm staunend und beglückt dabei zu.
Wenige Familien aus der englischen Aristokratie vereinten die dünkelhaften, hinterweltlichen, aber auch die zuweilen radikal unkonventionellen Züge dieser Gesellschaftsschicht in so burlesker Konzentration auf sich wie die Mitfords in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts. Die Töchter aus diesem guten Hause heirateten Brauereierben und Faschisten, waren glühende Bewunderinnen von Adolf Hitler, gingen auf die Fuchsjagd und endlose Cocktailpartys – oder aber sie zogen für die Republik in den Spanischen Bürgerkrieg. Letzteres tat Jessica Mitford, die mit ihren Memoiren eines der vielleicht schönsten, komischsten und boshaftesten Porträts nicht nur ihres exzentrisch reaktionären Elternhauses schrieb.
»Eine hinreißende Autobiographie.« Susanne Mayer, Die Zeit
Gestern noch Zeitgeschichte, aber über Nacht hochaktuell: die Geschichte der transatlantischen Partnerschaft. Angeblich längst beerdigt, wird sie seit dem 24. Februar 2022 in Europa als einzige Rückversicherung beschworen. Jeanette Erazo Heufelder erzählt ihre Geschichte anhand von Eric Warburg, Neffe des Kunsthistorikers Aby Warburg, dessen weltberühmte Bibliothek er vor den Nazis rettete. Er war Jude, Bankier, Fluchthelfer, Verhöroffizier in der U. S. Army, transatlantischer Brückenbauer, Waffenlieferant im finnisch-sowjetischen Winterkrieg und Kalter Krieger. Mithilfe der von ihm eingerichteten Kooperationskanäle wurden westdeutsche und US-Gesellschaftsgruppen auf den Westen eingeschworen. Der Untertitel untertreibt. In Wirklichkeit findet in diesem Leben das politische 20. Jahrhundert Platz, das, wie wir heute sehen, ins 21. Jahrhundert reicht. Dieses Buch berichtet, wie es dazu kam.
Wer war das wohl, da, im Sessel oder im Bett eingesunken, alt oder auch nicht, jedenfalls bestimmt nicht ganz gesund und deshalb anders? Und drum-herum, die halbe Stadt, meistens Frauen, ein paar Männer und vielleicht der Doktor oder sein mit ihm verfeindeter Kollege, der alles anders macht. Oder der neue Lehrer vom Festland, der spinnt und lange Haare hat und Sterbenskranke so interessant findet, dass er ganze Schulklassen mitnimmt, wenn er sie besucht. Vicente Valero erzählt ein seltsames Kapitel aus Ibiza – zur Zeit seiner Kindheit noch ein abgelegenes Stück Land im Meer, wohin erst Künstler kommen, Ausländer, und auch die Deutschen und sich alles verändert. Nur die Kranken bleiben, wie sie sind, ob sterbenskrank oder erkältet. Abwesend, aber nicht einsam. Denn auch wo gehustet oder gestorben wird, auch da vergeht die Zeit, und eine neue kommt.
1923 – Zeitenwende, Höllenritt? Jedenfalls mit Unter-haltungswert für Nachgeborene: Lotte Lenya verkauft das letzte Schmuckstück, das sie sich erschlafen hat, liegt in ihrer Pension und blickt auf das Nijinsky- Plakat an der Wand. Was nun? Bertolt Brecht fällt dreimal durch auf dem Theater und ist danach berühmt. Kurt Tucholsky kann vom Schreiben nicht mehr leben und wird Banklehrling. In Thüringen und Sachsen ist Revolution. Pianist George Antheil kauft sich eine Pistole, um sich bei Konzerten den Weg notfalls freizuschießen. Käthe Kollwitz ist eifersüchtig. Showdown zwischen Thomas Mann und Gerhart Hauptmann, Adolf Hitler probt die Machtergreifung. Otto Dix und George Grosz werden vor Gericht gezerrt, und Franz Kafka geht in Steglitz spazieren. Peter Süß erzählt ein denkwürdiges Jahr in Flashbacks wie aus einem nicht ganz glaubhaften Film. Humorvoll, satirisch, bildhaft wie das ganze unvorstellbare Jahr.
»Lesen Sie dieses Buch, sonst lese ich es!«
Wie weit ist es von Paul Valéry bis Karl Valentin? Hören Sie mal: »Jetzt regelmäßig coole Buchstaben-rätsel bei Hosemanns Papierkorb lösen und 1 Strand -matte gewinnen. Heute: Welches Wort hat ein A, zwei E, ein I, vier L und zwei P?« – »›Pillepalle‹ @Julia: Die Strandmatte steckt im Papierkorb.« – »Über meine erste Lesung hörte ich danach viel Gutes (›Ich fand’s toll, dass er den Rotwein selbst bezahlt hat‹, ›Wunderbar familiär‹, ›Spricht deutlicher als früher‹).« – »In der Corona-Zeit habe ich gelernt aufzuräumen mit Marie Kondō und Hideko Yamashita. Bei Büchern immer die Taschenbücher rollen und die Hardcover falten, bevor man sie wegwirft.« – »Heute werde ich ab 17 Uhr 30 das Geheimnis des Schreibens preisgeben (Lidl-Parkplatz, Offenbacher Landstraße, Abstand halten).«
»Ich halte mich für sehr geschickt, wenn es um die Verfertigung von Träumen geht. Pro Nacht gelingen mir im Schnitt vier, und es sind wahre Romane, genauer gesagt Erzählungen.« Träume, Erinnerungen, Fantasien, mal scharf konturiert, mal vage verschwimmend – daraus knüpft Anne Serre ihr raffiniertes, spielerisch leichtes Selbstportrait in dreiunddreißig Facetten. Eine unbekannte Mutter, die Liz Taylor ähnelt, ein verheirateter Liebhaber, der mit einem Revolver spielt, ein anderer, der an Becketts Todestag auftaucht … und wie Karten, die man aufdeckt, erscheint mal ein weibliches, mal ein männliches, verletzliches oder mörderisches Ich. Für dieses Buch wurde Anne Serre, in Frankreich seit Jahrzehnten bekannt, mit dem Prix Goncourt de la Nouvelle ausgezeichnet, und es wird höchste Zeit, diese elegante und kluge Autorin endlich auch auf Deutsch zu entdecken.
Ein vergessener Autor? Julio Cortázar? Das wollen wir doch mal sehen. Vielleicht sollte man erstmal dieses Buch lesen. Es versammelt unerwartete Nachrichten aus dem Nachlass eines Autors, den seine Fantasie und Experimentierfreudigkeit auf den Parnass der modernen lateinamerikanischen Klassiker katapultierte. Michi Strausfeld, die ihn noch gut gekannt hat, erinnert mit dieser Auswahl von Briefen, Skizzen, Artikeln, Capriccios und nachgelassenen Erzählungen daran, dass dieser ebenso verschmitzte, überwältigend charmante und tiefsinnige Erfinder von ebenso geschliffenen wie fantastischen Geschichten aus gutem Grund für so viele junge Autorinnen und Autoren ein Vorbild geworden ist, nicht nur in Lateinamerika. Christian Hansen, einer seiner kenntnisreichsten Fans, hat die Texte für diese umfassende Anthologie eines Argentiniers, den die ganze Welt mochte, übersetzt.
»Seit über dreißig Jahren lebe ich im Westen Japans, und zu meinem großen Entzücken weiß ich heute deutlich weniger als bei meiner Ankunft.« Folgerichtig zählt sich auch Pico Iyer, einer der großen Reiseschriftsteller unserer Zeit, vergnügt zu den Japan-Anfängern. Denn das Land warte tagtäglich mit zu vielen Rätseln auf, als dass selbst langjährige Bewohner echte Kennerschaft für sich in Anspruch nehmen könnten. Hier nun schöpft Iyer aus seinen vielen Erfahrungen, aus Reisen, Gedanken, Lektüren, Gesprächen mit japanischen Freundinnen und Freunden und eröffnet uns überraschende, pointierte Einblicke in die japanische Kultur: von Gärten und Tempeln über Liebeshotels und Kinobesuche bis zu Make-up und Zen. Mit Liebe für Details und Freude an Widersprüchen erhellt Iyer Japan-Neulingen ein faszinierendes Land, erfahrene Reisende werden es noch einmal mit anderen Augen sehen.
Ob sich beim Thema Finanzmärkte Skepsis einstellt oder Jagdfieber – dieses Buch bedient beides. Als Fondsmanager ist Georg von Wallwitz Insider. Als Mathematiker und Philosoph gönnt er sich einen gelassenen Blick auf seine Welt, die ein Spiegel ihrer Zeit ist: Er erklärt, warum die Finanzmärkte wurden, was sie sind – gefährlich, doch von hohem Unterhaltungswert. Er beschreibt auf menschenfreundliche Art komplizierte Dinge. Er zeichnet Charakterbilder der Finanzakteure, in denen man nicht nur die Leute mit den riesigen Bonuszahlungen erkennt, sondern am Ende, hoffentlich, auch – sich selbst. Nichts fehlt: Keynes und die Klassische Theorie, Glanz und Elend des Finanzparketts, langweilige Aktien, spannende Anleihen, schurkische Hedgefonds und vieles mehr, was das Herz erfreut, und auch den Geist.
LiBeraturpreis 2023
»Man reißt ein Grasbüschel aus und glaubt, man sei das Kraut für immer los, aber nach einem Vierteljahrhundert wächst Gras derselben Art an derselben Stelle wieder nach.«
Im Sommer 1949 wird ein palästinensisches Beduinenmädchen von israelischen Soldaten missbraucht und ermordet. Jahrzehnte später versucht eine junge Frau aus Ramallah, mehr über diesen Vorfall herauszufinden. Sie ist fasziniert, ja besessen davon, vor allem, weil er sich auf den Tag genau fünfundzwanzig Jahre vor ihrer Geburt zugetragen hat. Ein Detail am Rande, das jedoch ihr eigenes Leben mit dem des Mädchens verknüpft. Adania Shibli verwebt die Geschichten beider Frauen zu einer eindringlichen Meditation über Krieg, Gewalt und die Frage nach Gerechtigkeit im Erzählen.
»Ein außergewöhnliches Kunstwerk, das immer wieder überrascht und fesselt: eine äußerst rare Mischung aus moralischer Intelligenz, politischer Leidenschaft und formaler Virtuosität.«
Pankaj Mishra
Hans Fischer, einer der bedeutendsten deutschen Ethnologen, dokumentierte in diesem erstmals 1981 erschienenen Buch eine für die Interessen des deutschen Kolonialismus besonders aufschlussreiche »völkerkundliche« Unternehmung: Anhand der von 1908 bis 1910 von Hamburger Kaufleuten und dem Senat der Hansestadt ausgerichteten Südsee-Expedition zeigt sich anschaulich, wie Wirtschaftsinteressen, Kolonialpolitik und Rassismus eine auch von ehrlichen Forschungsinteressen getragene Unternehmung beeinflussten und ihr eine historische Besonderheit verliehen. Heute, angesichts der Debatten über das, was in europäische Museen gehört oder als Raubgut zurückgegeben werden soll – nicht zuletzt auch angesichts der Diskussionen um die Präsenz des polynesischen Prachtboots, der ethnologischen Ikone im Berliner Humboldt Forum –, ist dieser Bericht aus der kolonialistischen Praxis von großer Aktualität.
Dass Herr Rutschky in seinen Tagebüchern nicht über Susan Sontag schreibt, sondern über ihn, und nicht einmal schmeichelhaft, das ist für Marc Degens Ausgangspunkt für ein virtuoses Stück Autofiktion. Sein Bericht über ein Stück höfische Kultur im 21. Jahrhundert und was sie anrichten kann, hat es in sich. Wie das eigene Leben von den hierarchischen Zufällen in einem eifersüchtig umtanzten Intellektuellen-Zirkel hin und her geworfen wird und welche Kollateralschäden dabei drohen, diese überaus ernsthafte komische Geschichte wurde so noch nie erzählt.
Camanchaca – ein Nebel, der Chiles Küste einhüllt. Oder ist es der Nebel der Gefühle und Erinnerungen, durch den sich der Erzähler tastet? Ein junger Mann, übergewichtig, mit schlechten Zähnen, im Auto unterwegs zur peruanischen Grenze, wo Kleidung und Zahnärzte billig sind. Am Steuer der Vater, mit neuer Frau und neuem Kind. Zurückgelassen in Santiago die Mutter, Erinnerungen an nächtliche Gespräche; Fußballspiele im Fernsehen, den Lebenstraum Reporter im Stadion. Die lakonische Poesie dieser Geschichte aus einer beschädigten Jugend am Meer, in einem beschädigten Land, lässt offen, ob die Reise durch eine von Erinnerungen an Zärtlichkeit und Gewalt verhüllte Landschaft auch ein Weg der Befreiung ist. Gute Literatur zeigt ihre Klasse nicht zuletzt in dem, was sie verschweigt.
Budapest–Berlin: Hier verlief eine der vielen ostwestlichen Fluchtlinien des 20. Jahrhunderts. Erst nach 1989 bemerkte man erstaunt die Präsenz der Ungarn in Deutschland, vor allem aber in Berlin, wo große Autoren wie György Konrád, Imre Kertész, Péter Esterházy oder Péter Nádas lebten, wo Terézia Mora und György Dalos heute leben. Dabei reicht die ungarische Präsenz hierzulande viel weiter zurück, oft verbunden mit anderen großen Umbrüchen: 1918, 1933, 1945, 1956. Thomas Sparr erzählt von einer einzigartigen historischen Konstellation, von Gedanken und Werken, vor allem aber von den Leben dahinter. Georg Lukács, Arnold Hauser, Peter Szondi und Ágnes Heller sind zu hören, Ivan Nagel, die Komponisten György Ligeti und Györgi Kurtág ebenso wie die vielen Autoren, die den Weltruf der ungarischen Literatur begründen. Die Donau, das erfahren wir hier, fließt auch durch Berlin.
Inflation bedeutet nichts weiter, als dass die Preise steigen. Na und? Freilich, da war mal was, vor hundert Jahren, als das Geld in Deutschland scheinbar wertlos wurde. Als man für eine Straßenbahnfahrkarte, die bei Fahrtbeginn zwei Millionen kostete, beim Erreichen des Ziels noch ein paar Hunderttausend drauflegen musste. Über diese wahnsinnigen Jahre, über die deutsche Urangst vor dem (Existenz)Verlust und ihr Fortleben schreibt Georg von Wallwitz, wie immer so kenntnisreich wie unterhaltsam. Hier kann man nicht nur erfahren, warum damals die sauer ersparten Mark und Groschen braver Bürger durch den Schornstein verschwanden, sondern auch, wie gewitztere Naturen unterdessen gewaltige Vermögen anhäuften. Und heute? Müssen wir uns fürchten, wenn die Preise steigen, und weiter die Sparweltmeister geben – oder sollten wir uns lieber entspannen? (Raten Sie mal!)
Yoga – alle tun es, und das ist gut so. Was aber ist das eigentlich? Die Indologin Elvira Friedrich präsentiert Yoga als ganzheitliche Methode mit dem Ziel eines freien und selbstbestimmten Lebens. Ursprünglich in Indien entwickelt und von Patañjali im Yogasutra systematisiert, hat Yoga sein Ursprungsland verlassen und die Welt erobert und durchdrungen. Oft auf Körper- und Atemübungen reduziert, lehrt der Yoga weitaus mehr. Dieses Buch, erstmals vor zwanzig Jahren erschienen und für die Neuausgabe ergänzt und erweitert, erlaubt einen tiefen Einblick in Ursprünge, Entwicklung und Praxis des klassischen Yoga.
Dass sich die sogenannte Traumfabrik von Hollywood in Kalifornien befindet, weil dort immer die Sonne scheint, mag man für einen Witz halten. Es ist aber die reine Wahrheit, und Christine Wunnicke hat ein wundervolles Stück Literatur darüber geschrieben. Es handelt von Mr. Selig, dem Filmunternehmer, der statt im langweiligen Kalifornien lieber im brausenden Chicago sein Glück machen will. Und von Mr. Boggs, seinem Spielleiter, der jedes Mal, wenn sich eine Wolke vor die Sonne schiebt, den Betrieb einstellen muss und deshalb nichts sehnlicher wünscht, als in den sonnigen Westen zu ziehen. Das gute Ende ist bekannt, aber wie es dazu kam, wurde noch nie so schön erzählt.
Erdogan hin, Erdogan her – Istanbul leuchtet. Das zeigen die Begegnungen und Gespräche, mit denen die langjährige Korrespondentin der Süddeutschen Zeitung, ihr Porträt der uralten Weltstadt zeichnet: von der Gezi-Park-Aktivistin bis zum Gourmetkoch, von der Frau eines Imams bis zum Arzt mit Deutschland-Sehnsucht, von den bunten Vögeln der Nacht bis zu den Nachfahren von Griechen, Juden und Armeniern, die hier noch leben. Anhand der Menschen in dieser moderne Megacity erzählt Christiane Schlötzer von den Spaltungen der türkischen Gesellschaft, aber auch von Mut, Widerstandskraft und Kreativität, aus denen die Stadt am Bosporus ihre Lebendigkeit schöpft.
»Eine einzige Schraube, die nicht ordentlich festsitzt, kann das Ende der Welt herbeiführen.«
Mit Entschlusskraft und dem richtigen Anzug ist alles möglich – selbst als Vertreter für Eisenwaren (Marke Kramp!) in Chile Anfang der 80er Jahre. Und weil Kinderaugen auch Schraubenhändlerherzen schmelzen lassen, nimmt der Vater kurzerhand seine siebenjährige Tochter auf Verkaufstour mit. Die Kleine genießt ihre »Parallelerziehung« auf der Straße, und alles könnte für immer so weitergehen, wenn, ja wenn diese Geschichte nicht zu Chiles schlimmsten Zeiten spielte. So aber findet dieses Vater-Tochter-Roadmovie à la Paper Moon ein jähes Ende – und damit auch eine Kindheit, die doch so munter glänzen sollte wie ein Fuchsschwanz der Marke Kramp.
»Herausragend.«
The New York Times Book Review
»Ein ruhiger herrlicher Sommerabend; die Trauben reifen, die Ochsen pflügen. Nur der Mensch ist völlig verrückt geworden.«
In der Rückschau ist es leicht, Anzeichen für drohendes Unheil auszumachen. Aber wer mittendrin in der Geschichte steckt, kann nur versuchen, sich aus Gehörtem, Gesehenem und Gelesenem ein Bild zusammenzusetzen. Im Sommer 1940 tritt Italien in den Zweiten Weltkrieg ein, ein gutes Jahr zuvor beginnt Iris Origo ihr Tagebuch. Die Britin lebt in der Toskana, ist aber auch in Rom bestens vernetzt. Und während die Nazis über halb Europa hinwegziehen, spricht sie mit Bauern und Politikern, hört Radio und liest Zeitungen – und hält alles fest. So bekommen wir nicht nur Einblick ins faschistische Italien, sondern auch ein Gefühl dafür, wie es ist, wenn die Welt am Wendepunkt steht.
Es ist die größte Projektionsfläche Berlins, manche nennen es: das Schloss. Das hat nichts mit Kafka zu tun, dafür viel mit einem Preußen, das es, wie dieses Gebäude, so nie gegeben hat. Jahrzehnte wurde gestritten, gerungen, polemisiert: hier die Preußen-Freunde, die etwas wiederhaben wollten, was aussehen möge wie ein Schloss, ganz gleich, was es beherbergt (und sei es ein Humboldt Forum) – dort die Anhänger eines zeitgenössischen, zukunftsweisenden Umgangs mit historischen Baulücken. Hans von Trotha, profunder Kenner von Schlössern und Gärten in Europa, hat die Debatte intensiv verfolgt. Nun, da die Außenhülle vollendet ist, versucht er eine Rekapitulation der Grabenkämpfe. Und beleuchtet die Hintergründe – wo aus Gräben bisweilen Abgründe werden.
In Mussolinis Italien, im Schatten der Fabriken von Fiat und Olivetti, begegneten sich in den dreißiger Jahren in Turin ein paar gebildete junge Leute. Sie gründeten Zeitschriften und Verlage, schrieben kritische Artikel, nahmen Verbannung und Gefängnis auf sich und fühlten sich als Avantgarde. Und das waren sie: Aus dem Kreis um Cesare Pavese, Leone und Natalia Ginzburg und den Einaudi-Verlag kam jener Geist, der nach 1945 das Klima intellektueller Freiheit in Italien wesentlich geprägt hat. Maike Albath, die Italien kennt und liebt, beschwört in ihrem Buch die Stadt und die einmalige geistige Landschaft, in der diese stolze Episode aus Italiens jüngerer Geschichte ihren Lauf nahm.
Shortlist Deutscher Sachbuchpreis 2022
Ausgezeichnet mit dem Seume-Literaturpreis 2021
»So weit das Auge reicht«. An einem Nordseestrand – auf Schiermonnikoog vielleicht – muss die Redewendung entstanden sein, so weiß, weit und leer liegt er da, ein magisches, manchmal unheimliches Niemandsland, wo Land und Meer ineinander übergehen. Hier beginnt Bettina Baltschev ihre Reise zu den Stränden Europas, an die Ränder unseres Kontinents. Von acht Stränden in acht Ländern aus unternimmt sie Exkursionen in die Gegenwart und die Geschichte eines Sehnsuchtsortes, der manchen letzte Zuflucht ist. Sie macht Ausflüge zu Literatinnen und Künstlern, die sich vom seltsamen Zauber des Strandes haben inspirieren lassen, beobachtet die immer neuen Landschaften und die Menschen darin und erzählt mal heiter, mal bewegend, immer leicht und elegant von wahren und fiktiven, glücklichen und tragischen Schicksalen am Strand. Am Rande unserer Welt.
Die Leichtlebige (Julia). Das Mannweib (Agrippina die Ältere). Die Herrschsüchtige (Agrippina die Jüngere): Die krassen Vorurteile der Nachwelt über Mutter, Großmutter und Urgroßmutter von Nero haben sich gut gehalten. Dabei waren die Frauen der Kaiserdynastie selbstbewusste Rollenmodelle der Emanzipation vor 2000 Jahren. Sie waren hochgebildet und steinreich, ritten über die Alpen und segelten auf dem Nil, empfingen Könige und kommandierten Soldaten. Dass Neros Mütter selbst Macht ausüben wollten, wurde ihnen zum Verhängnis – sie wurden von den Männern ihrer Familie verbannt und ermordet, von der Geschichtsschreibung vergessen oder verdammt. Birgit Schönau schreibt die Biografien der drei Frauen neu und beweist, dass der Kampf um weibliche Selbstbestimmung so alt ist wie Europa.
Moria. Das Flüchtlingslager auf Lesbos steht inzwischen sinnbildlich für das, was falsch läuft in der europäischen Flüchtlingspolitik. Helge-Ulrike Hyams kam im Herbst 2019 mit einer NGO hierher. Einen Winter lang hat sie mit Geflüchteten aus aller Welt gelebt und gesprochen, hat zugehört und seelische Unterstützung geleistet, bis im März der Sitz ihrer Organisation abbrannte, ein halbes Jahr bevor auch Moria in Flammen aufging. Helge-Ulrike Hyams zeichnet aus nächster Nähe das Porträt eines Ortes und seiner Menschen – jener, die hier ausharren müssen, der Volunteers und der Einheimischen. Es ist ein einmaliger Blick in das Innenleben und die Lebensumstände, die Sorgen und Hoffnungen von Menschen, die auf der Suche nach einem besseren Leben nach Europa wollen, wo so viele vor ihnen Angst haben. Moria hat viele Gesichter.
Auf Reisen führt manchmal der Zufall Regie. Viermal bricht Vicente Valero auf, nach Italien und Dänemark, nach Zürich und Augsburg. Stets im Gepäck: das von einem Onkel geerbte Reiseschach. Was unbeschwert beginnt, mit Schachpartien und Begegnungen mit offenem Ausgang, wird zu einer detektivischen Suche nach Orten und Plätzen, wo sich die Lebenslinien von fünf europäischen Geistern kreuzen: Brecht und Benjamin in Svendborg 1934; Nietzsche, kurz vor seinem geistigen Zusammenbruch in Turin; Kafka bei der berühmten Lesung in München 1916; Rilke schließlich, der 1921 in Berg am Irschel versucht, sein Hauptwerk endlich zu vollenden.
Schon jetzt ein moderner Klassiker der Musikliteratur: Die Konzertagentin Sonia Simmenauer erzählt aus dem Alltag »ihrer« Streichquartette, darunter so berühmte Formationen wie das Alban Berg, das Guarneri oder das Artemis Quartett. Vier Menschen, die Musik machen, die miteinander leben, arbeiten, reisen, auftreten, sich streiten und sich lieben – ein idealer Kampfplatz für Neurosen, Beziehungsprobleme und die Auseinandersetzung mit anspruchsvollster Musik. Simmenauer gelingt eine berührende, höchst unterhaltsame Beschreibung dieser besonderen Lebensform.
Dass die Auseinandersetzung mit dem eigenen Leben auch in der Rückschau eine immer noch jugendlich bewegte Tätigkeit sein kann, lässt sich hier nachlesen: in einem Gedicht, einem Gespräch und in zwei Erinnerungen an die Literatur. Autobiografie ist bei Michael Krügers Selbstporträt mit Dichtern auch da präsent, wo die Erinnerung bewunderten Kollegen wie dem polnischen Dichter Zbigniew Herbert gilt oder jenen Autoren und Freunden, mit denen er in den 70er Jahren den Petrarca-Preis begründete. Der Lyriker Krüger ist ein Freund und Orchestrator naturbelassener Einsamkeit. Zugleich hat er stets die geistige Weite und das Sprachgewirr der internationalen Literatur unserer Zeit gesucht. Hier sieht man, wie Behutsamkeit und Zurückhaltung, Anspruch und Selbstbewusstsein ein Leben für die Literatur geprägt haben.
Wenn es anfängt, weh zu tun, muss man etwas unternehmen: Das fand auch Elisa Diallo, Tochter einer französischen Mutter und eines guineischen Vaters. Aufgewachsen in Frankreich, empörte sie sich zunehmend über die Hartnäckigkeit, mit der die Grande Nation ihren Staatsbürgerinnen und -bürgern mit Migrationshintergrund immer wieder zu verstehen gab, sie gehörten zwar dazu – aber eben doch nicht ganz. Heute lebt Elisa Diallo in Mannheim, besitzt die deutsche Staatsbürgerschaft und arbeitet in Frankfurt. Wie es zu diesem für eine Französin immer noch radikalem Schritt kam, das erzählt und erklärt sie in diesem wichtigen persönlichen Zeugnis in Zeiten, in denen die Frage »Woher kommst du und wer bist du?« so wichtig und unwichtig wie nie ist.
Nominiert für den Deutschen Buchpreis 2015
Vom Fuchs besessen, und das auch noch in Japan! Klarer Fall für Neurologen mit geschärftem Sinn für Menschen – vorzugsweise Frauen – neben der Spur. Dr. Shimamura (den es wirklich gab) reist in der Abendröte des 19. Jahrhunderts durch die Provinz, wo das burleske Krankheitsbild zur Folklore gehört. Ein liebestoller Student begleitet ihn, geht aber bald verloren, dafür fängt der Doktor sich selbst einen Fuchs ein (den es vielleicht auch gab). Da hilft nur noch Europa, und so flieht Shimamura auf Bildungsurlaub gen Westen, besteht neurologisch aufschlussreiche Abenteuer in Paris, Berlin und Wien. Allein, der Fuchs lässt ihn nicht los – auch nicht Jahrzehnte später zurück in Japan, wo sich dieses seltsame Leben, beäugt von allerhand weiblichem Familienanhang, seinem Ende zuneigt. Und so bleibt der Fuchs der unsichtbare Protagonist dieses fernöstlich getönten Gegenwartsromans.
Wenn sich Antisemitismus heutzutage in einer Gesellschaft mitten in Europa ausbreitet, ist es schlimm genug. Wenn selbst die linke politische Elite eines Landes hier voranmarschiert und Ressentiments schürt, wird es brandgefährlich. Julia Neuberger, britisch-deutsche Rabbinerin, berichtet mit vielen Beispielen aus jüngster Zeit genau davon aus ihrer Heimat. Und weil Antisemitismus so viele hässliche Gesichter tragen kann, liefert sie historischen Hintergrund und erläutert, was Antisemitismus ist – und was nicht. Denn nur, wenn darüber Klarheit besteht, lässt er sich bekämpfen.
»Wenn ich auch nur einen Menschen dazu bewege, seine Meinung zu ändern, sei es in Deutschland oder in Großbritannien, bin ich schon zufrieden. Sind es mehrere, bin ich begeistert. Und wenn wir dieses Buch in zehn Jahren wegwerfen können, weil es nicht mehr gebraucht wird, werde ich völlig aus dem Häuschen sein.«
Julia Neuberger im Vorwort zur deutschen Ausgabe
Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2020
Wilhelm Raabe-Literaturpreis 2020
Bombay, 1764. Indien stand nicht auf dem Reiseplan und Elephanta, diese struppige Insel voller Schlangen und Ziegen und Höhlen mit den seltsamen Figuren an den Wänden, schon gar nicht. Doch als Forschungsreisenden in Sachen »biblischer Klarheit« zieht es einen eben an die merkwürdigsten Orte. Carsten Niebuhr aus dem Bremischen ist hier gestrandet, obwohl er doch in Arabien sein sollte. Ebenso Meister Musa, persischer Astrolabienbauer aus Jaipur, obwohl er doch in Mekka sein wollte. Man spricht leidlich Arabisch miteinander, genug, um die paar Tage bis zu ihrer Rettung gemeinsam herumzubringen. Um sich öst-westlich misszuverstehen und freundlich über Sternbilder zu streiten (denn wo der eine eine Frau erkennt, sieht der andere lediglich deren bemalte Hand). Es könnte übrigens alles auch ein Fiebertraum gewesen sein. Doch das steht in den Sternen.
Man kennt die Synchronstimme am Ende von »Manche mögen’s heiß«, die aus dem Mund eines liebestollen Millionärs die Worte »Niemand ist perfekt« hervornäselt: Das ist Freddy Balthoff. Als jüdischer Schauspieler, schwul und mit Liebhaber in der Wehrmacht, überlebten er und andere die Nazizeit versteckt im Berliner Villenvorort Schlachtensee – in einer Bauhausikone, erbaut von Peter Behrens, eingerichtet von Marcel Breuer, die noch heute dort steht. Sie gehörte dem jüdischen Schauspieler Fritz Wisten und dessen Familie. Wie diese Menschen überlebten, mit Naziprominenz als Nachbarn, welche Zufälle lebensrettend eingriffen, neben einem Reigen feindseliger und hilfreicher Menschen – davon erzählt Thomas Blubacher. Unter der Menge der Geschichten vom Überleben ist dies ein besonders bizarres Kapitel aus dem Berlin der Nazizeit – und eines mit Happy End.
Eliot Weinberger ist nicht nur einer der originellsten Essayisten, er ist auch einer der schärfsten politischen Kommentatoren der USA. In seinen Texten über die Politik unter den Regierungen Bush und Trump lässt er Fakten sprechen: Nachrichtendetails, Aussagen von Politikern, die den Wahnsinn, der in den USA zum Alltag geworden ist, in all seinen bizarren Auswüchsen präsentieren. Nichts fehlt: der Irakkrieg, fromm homophobe und rassistische Republikaner, Konzentrationslager für geflüchtete Kinder, nicht zu vergessen Donald Trumps Empfehlungen zum Umgang mit einem Virus. Weinbergers Chroniken aus dem republikanischen Amerika sind erschütternde Bilder einer verstörten Gesellschaft.
»Einer der spannendsten und unabhängigsten amerikanischen Intellektuellen.« Sieglinde Geisel, NZZ am Sonntag
»Eliot Weinberger ist ein begnadeter Essayist.« Michael Schmitt, Deutschlandfunk
Wie die Zeit vergeht am 31. August? Wie immer, wie denn sonst. Und da vorn – das Meer! Dort sitzt der Autor vierundzwanzig Stunden lang. Und erzählt, was geschieht, wenn nichts geschieht. Alles ist wichtig: Frühaufsteher, Schwimmer, Liebespaare. Das Licht, der Geruch, die Geräusche. Schiffe, die auftauchen wie Gedanken, Erinnerungen. Um 15 Uhr 30 bleibt die Zeit stehen, und irgendwann kommt die Dämmerung. War’s das? Das Tagebuch eines einzigen Tages. Im Sommer. Am Meer.
»Im Kopf werfe ich eine Münze: Falls mich eine Einladung nach Europa führt, werde ich die Reise auf eigene Faust gen Osten ausdehnen.« Die Einladung kam, und die in New York lebende Chilenin Lina Meruane fuhr erstmals in die Heimat ihrer palästinensischen Großeltern, ins heutige Israel. Der Bericht über ihre Reisen in die eigene Vergangenheit ist ein gedankensprühender Kommentar zu einem zunehmend weltbewegenden Problem: Warum wird es immer komplizierter, die Fragen »Wo kommst du her? Wer bist du?« eindeutig zu beantworten? Ausgerechnet in Israel, so hat es Lina Meruane am eigenen Leib erfahren, haben mehr als anderswo rassische, genetische, physiognomische Zuschreibungen Einzug gehalten in den Alltag der Menschen. Ein Buch darüber, wer man zu sein glaubt, und welche politisch wirksamen Täuschungen damit verbunden sind.
Der Universaldilettant Wense wandert so, wie er forscht, übersetzt und komponiert: ekstatisch. Deutsche Landschaften sind ihm ebenso heilig wie die Sagen und Mythen der Cherusker, Maya oder Osmanen, wie Sterne, Steine und Tiere und all das andere, was es zu entdecken gilt. Allerdings herrscht Krieg, sein geliebtes Kassel wurde schon zerbombt, und in Göttingen muss er neuerdings Sonden für den militärischen Wetterdienst prüfen … Angelehnt an die historische Person Hans Jürgen von der Wense erzählt Christian Schulteisz von einem allwissenden Taugenichts, der plötzlich taugen soll. Ein tragisch-komischer Roman über Poesie und Irrsinn einer staunenden, zweckfreien Sicht auf die Welt.
»Christian Schulteisz ist ein eindringlich schreibender Zeitgenosse.« Arnold Stadler
Was macht ein berühmter Krieger in Friedenszeiten? Samurai Seki Keijiro hat sich aufs Land zurückgezogen und langweilt sich kolossal im Kreise seiner Familie. Doch als er hört, dass vor Nagasaki ein Schiff der Niederländischen Ostindien-Kompanie erwartet wird, erwacht er zu neuem Leben. Denn da war noch etwas: eine ungeklärte Episode seines Kriegerlebens. Seki heuert als Inspektor der Handelsniederlassung an und bekommt es mit dem jungen Niederländer Abel van Rheenen zu tun, der auf dem Schiff als »Dolmetsch« reist, zu viel redet und darüber hinaus die japanische Seele erkunden will … Auf ihre eigene unnachahmliche Weise, atmosphärisch dicht, fein gezeichnet und pointensicher, erzählt Christine Wunnicke diese Geschichte einer Verführung nach allen Regeln der Kriegskunst.
In der ruhmlosen deutschen Kolonialgeschichte dürfte das Kapitel über Kamerun eines der finstersten sein. In einträglicher Zusammenarbeit verleibten sich wilhelminische Kolonialbeamte und ehrbare Kaufleute das Land und seine Schätze ein und unterjochten die Bevölkerung. Einem Sohn des Häuptlings der Duala wurde dennoch gestattet, nach Deutschland zu reisen und sich dort zu bilden. Als Prinz Manga Bell allerdings von seinen Kenntnissen des deutschen Rechtssystems Gebrauch machte und gegen die nicht nur grausame, sondern auch vertragsbrüchige Kolonialregierung klagte, wurde er des Hochverrats bezichtigt und in Windeseile aufgehängt. Christian Bommarius, Publizist und Jurist, hat den Fall aufgerollt: Seine Geschichte eines infamen Justizmordes ist zugleich eine Fallstudie über Rassismus, Gier und abgrundtiefe politische Dummheit.
Es ist etwas Unheimliches um diese vier Menschen, die in der Nachkriegszeit auf so unterschiedliche Weise zu Prominenz gelangten. Matthias Bormuth schaut hinter die politisch aufgeheizten Momente, in denen die deutschsprachige Öffentlichkeit in den siebziger Jahren den Atem anhielt: bei Verhaftung und Selbstmord der begabten Publizistin Ulrike Meinhof; bei der Nachricht vom Flammentod Ingeborg Bachmanns, der gefeierten Dichterin; beim Suizid von Jean Améry, den die Tatsache, dass er Auschwitz überlebt hatte, nicht leben ließ; und bei der Nachricht vom einsamen Tod des dem Alkohol erlegenen Uwe Johnson. Was verbindet diese Intellektuellen, die ihr Leben nicht aushalten konnten?
»Die Nation ist der organisierte Eigennutz eines ganzen Volkes, jener Zug an ihm, der am wenigsten menschlich ist.«
Rabindranath Tagores Reden über den Nationalismus sind hundert Jahre alt, aber fast taufrisch. Mit ihnen protestierte Indiens Nobelpreisträger gegen »den Westen« und seine Neigung, dem Rest der Welt das eigene Gesellschafts- und Wirtschaftsmodell als alternativlos zu verkaufen. Hier wird alles verhandelt: das eigensüchtige Konstrukt von hinter ihren Grenzen verschanzten Nationen, ihre Gier, ihr Rassismus gegenüber vermeintlich minderwertigen Völkern, denen man alles nehmen darf. Auch hundert Jahre später lesen sich diese Ansprachen als ein Manifest, mit dem Tagore den Seinen zurief: »Empört Euch!«
Das ist ein Buch für Leute, die gerne lesen: es geht um Sprache. Das ist ein Buch für Leute, die nicht gerne lesen: die Texte sind sehr kurz. Das ist ein Buch für Leute, die gern schreiben: da ist genug Platz. Das ist ein Buch für Leute, die nicht gern schreiben: steht schon was drin.
Katharina Hackers neues Buch ist ein Notizbuch im doppelten Sinn: Es versammelt Notizen zu Wetter und Wolken, zu Tieren und Geschenken, Touristen und Festen und zu weniger Fassbarem (Blicken, Groll, Trost und Entgangenem) – sehr kurze Texte, die man zwischen zwei Haltestellenlesen kann oder im Stau. Es lässt aber auch Platz für eigene Gedanken. Das Buch passt in jede Jackentasche. Man kann es biegen. Man kann es weiter verschenken, mit eigenen Notizen zu Freundschaft, Nähe, Hunden, Kindern. Für Liebe ist Platz und für den Tod. Katzen kommen erst im nächsten Band vor. Es sind Essays, das heißt: der Anfang von etwas. So ist das gedacht.
Sizilien, die magische Insel, ihre Literatur, ihre brodelnde politische Gegenwart – all das wird zum Thema in diesem dritten großen Italienbuch von Maike Albath, die mit Land, Literatur und Bewohnern vertraut ist wie nur wenige. Der Horizont reicht von Lampedusas Leopard, mit dem die Insel die Bühne der Weltliteratur betritt, über Leonardo Sciascia bis zu Andrea Camilleri und seinen international erfolgreichen Montalbano-Krimis. Ein verführerischer Streifzug durch die Geschichte, durch Landschaften und die Straßen von Palermo und Catania, wo sich bis heute eine kulturelle und literarische Vielfalt erhalten hat, die einmalig ist in Europa.
Das Abenteuer »Hafen« ist universell. Wasser, Schiffe und Handel. Das gab es in Schanghai, Antwerpen, Hongkong, Liverpool, Alexandria oder New Orleans, verzweigt auch in Basel, Duisburg, Budapest. Hier ist es Hamburg. Ein Kosmos aus hochspezialisierten Berufen, ausgetüftelten Werkzeugen, rätselhaft gewordenen Wörtern und Gegenständen, der einen Menschenschlag geprägt hat, Lebensformen, eine ganze Stadt – dargeboten in einem kulturhistorischen Zeitraffer. Man begreift, was die Menschen jahrhundertelang beherrscht haben. Dieses Buch bringt es zurück. Zwei Seiten des Lebens schweißt Schuldt wieder zusammen: die Welt der Arbeit mit ihren Gerätschaften und Praktiken, und die bürgerferne Welt der Arbeiter jenseits der Arbeit: Feierabend, verlässliche Kameradschaft, Aufkeimen eigener sozialer Strukturen, volkstümliche Sprache, Dialekt. Berichtet wird vom prallen Leben der Arbeiter und Matrosen, ihren Vergnügungen, den unwiederbringlichen Kneipen, von der mütterlichen »Filzlaus«, von Chansonettentitten, Kakerlaken-Wettessen und einem Schiff voller Fliegerbomben. Und von der Zärtlichkeit, mit der gerade die ärmsten Teufel einander begegneten.
So selbstverständlich der 2018 verstorbene Michael Rutschky für viele als geistiger Coach einer ganzen Generation gilt, so (selbst)ironisch ist er mit dieser Rolle umgegangen. Für eines der letzten – komischen und un-komischen – Kapitel seines Lebensromans ist diese Selbstdistanz zum Thema geworden, wie dieser dritte Band seiner Tagebücher zeigt. Mit gewohnt virtuos lakonischer Prosa durchleuchtet Rutschky seine intellektuell hochgerüstete Umgebung, Freunde, Feinde und zufällig durchs Objektiv laufende Gestalten und Landschaften. Vor allem aber er selbst und seine Frau Katharina sind die Protagonisten und werden, wie alle anderen, mit den Kontrasten des auf die nähere Berliner Umgebung geschrumpften Alltags scharf belichtet.